Über das Kriegsende in Dorfen vor 75 Jahren
Ein Bericht aus der Sicht eines Kindes von Betty Simmerl.
Zu finden ist der Bericht in dem Buch „Herzkäfer, eine Kindheit“
Inzwischen legt sich der Schatten des 2. Weltkrieges über unsere Zeit. Die Erinnerungen an die letzten Kriegsjahre sind nicht sehr viele, aber sehr lebhaft in meinem Gedächtnis geblieben. In meine sonst sehr schöne frühe Kindheit mischen sich Erlebnisse von Angst, die fast ausschließlich mit den Krieg zu tun hatten. Gegen Kriegsende war ich knapp 8 Jahre alt und besuchte die 2. Klasse der Mädchenschule in Dorfen. Eines Tages sahen wir von den Fenstern unseres Schulzimmers die Gegend um den Bahnhof und mein Elternhaus (Bild unten) in Feuer und Qualm gehüllt und ich hatte schreckliche Angst. Tiefflieger hatten ein benachbartes Öllager in Brand geschossen, wobei aber unser Haus nicht zu Schaden kam. Einige Bomben waren bereits in die Felder und Wiesen nahe dem Bahnhof gefallen, als meine Mutter des Schreckens oder des Luftdrucks wegen von der Couch geworfen wurde.
Vater schickte uns Kinder hinaus, wenn im Radio der Kuckuck zu hören war.
Warum ich ihn nicht hören sollte, war ein Rätsel meiner Kindheit. Auch warum Verwandte und Freunde auf meinen Vater einwirkten, er solle sich nicht so deutlich äußern in der Öffentlichkeit, weil er sonst nach Dachau käme, verstand ich nicht. Eine Reise dachte ich, wäre doch schön.
Gefährlich wurde es allerdings, wenn die Sirenen heulten, man das Brummen des nahenden Bombengeschwaders hörte und wir entweder in den eigenen Rübenkeller flüchteten oder mit dem Rad zum Bachmayerkeller im Schuxenbergfuhren, der zum Luftschutzkeller umfunktioniert war.
Gleichförmiges, summendes Dröhnen des
Nahenden Bombengeschwaders.
Flucht in den Keller
Dunkelheit
Sich an die Mutter schmiegen
Schweigen
Vater unser im Himmel
Atemlosigkeit
Weinen
Horchen
Hoffen
Warten
Todesangst
Endlich der erlösende Langton
Entwarnung
Wieder warten
Langsam nach oben gehen
Dicht bei der Mutter
Aufatmen
Licht
Sonne
Glück
Wieder dem Leben gegeben
Nur mein kleiner Bruder Schorschi freute sich auf die Radltour, wenn die Sirene heulte, um dann im Luftschutzkeller regelmäßig zu schlafen und zu schnarchen.
Einmal aber, es muss 2 – 3 Wochen vor Kriegsende gewesen sein, fuhren wir, als die Sirene heulte, nicht zum Luftschutzkeller, sondern wir machten eine lange Radltour raus aus Dorfen in Richtung Eibach und weiter bis zum Bauernhaus des Mathias Lohmeier in Taggrub, wenn ich mich recht erinnere, damals Bürgermeister der Gemeinde Eibach, ein Freund meines Vaters. Taggrub, ja in der Grube lag der Hof, er und noch ein Anwesen, ringsum von Wald umgeben, sehr romantisch und einsam. Hier fanden wir Sicherheit vor Bomben und Tieffliegern. Wir, das waren außer unserer Familie noch Tante Marie mit den beiden Kindern, die aus Landshut geflüchtet waren. 7 Personen hat also die Familie Lohmeier aufgenommen, ich werde das nie vergessen. Vor allem nicht die herzensgute Bäuerin, die rotbackigen Äpfel im Keller, das Klavier in der „Stubn“ und den bösen Truthahn auf dem Hof, der erst einmal zu überwinden war, wenn man das „Häusl“ in der Scheune aufsuchen musste. Was das ein Leben für uns Kinder, ein richtiges Ferienerlebnis! Mussten wir doch auch nicht mehr zur Schule gehen. Vater war zuhause geblieben. Die Bauern aus der Gegend waren unsere Kunden, das Geschäft musste weitergehen. Zuhause bleib auch Tant Anna. Sie versorgte jetzt die Tiere, nachdem auch die „Dirn“ und der „Knecht“ verschwunden waren. Eines Sonntagvormittags tauchte plötzlich unser ebenfalls zuhause gebliebener Hund „Fips“ beim Taggruber auf, wenig später Vater in etwas aufgelöstem Zustand, barfuß in den Schuhen. Er war zu Fuß nach Taggrub geflüchtet, nachdem ihm bei einem Bombenangriff noch schlafend im Bett ein Stück Zimmerdecke auf den Kopf gefallen war. Nun fehlte nur noch Tant Anna. Sie hütete weiterhin das Haus und die Tiere. Aber sie kam in Schwierigkeiten. Tauchten 2 SS-Soldaten bei ihr auf und fragten, wo denn mein Vater, der Brandhuber das Auto versteckt hielt. Der schöne runde rotbraune „Hanomag“ stand nämlich in „Taggrubers“ Scheune. „Dös woaß i net“, sagte die Tant. Ich nehme an, sie wusste es wirklich nicht. Das gefiel aber den beiden gar nicht und sie drohten ihr, sie „an die Wand zu stellen“, falls sie das Versteck nicht preis gebe. Was das nun zu bedeuten hatte, wusste die Tante bestimmt nicht, denn sie antwortete: „Dann stell i mi halt an d`Wand“. Vor so viel Unwissenheit kapitulierten die SS-ler und zogen wieder ab. Vater war deshalb zur Unterstützung der Tant Anna wieder nachhause gegangen. Jedenfalls in der Nacht als es so laut war beim „Taggruber“ war er nicht bei uns. Welch ein Dröhnen war zu hören in unserer Waldeinsamkeit! „D ` Amerikaner kemman, dös san de Panzer, de von Erding nach Dorfen fahren, da Kriag is aus“, erklärte uns die Mutter. „D`Amerikaner, des sind doch unsere Feinde“ meinte ich und ich hatte schreckliche Angst, denn da konnte nur Böses kommen und sie würden wohl alle erschießen. Es wurde auch geschossen im Wald. „Dem Knecht vom Nachbarn hams an Kopf wegg`schossen“ so wurde geredet. Offenbar waren wir jetzt beim „Taggruber“ nicht mehr sicher, denn bereits am nächsten Morgen machten wir wieder eine Radltour. Dieses Mal durch den Wald, in dem immer wieder Schüsse zu hören waren, über den Hügel hinab zum Kloster Algasing. Dort hatte wohl der Vater eine Bleibe für uns erbeten, denn es war ein Zimmer für uns bereitet in einem Nebengebäude, in dem die Pferde ihren Stall hatten. Da hausten wir mit dem Rossknecht. Ich fühlte mich hier sehr geborgen. Es roch so warm nach den Pferden, nachts hörte man sie scharren und auch wiehern. „Hier darf und wird der Feind uns nicht finden, um uns zu erschießen“, so hoffte ich. Gott sei Dank, der Feind kam nicht nach Algasing. Nach ca. 1-2 Wochen hieß es dann, wir gehen wieder nach Hause, der Krieg ist ja zu Ende und alles wird wieder gut. Wir packten unser weniges Gepäck zusammen und gingen auf den Schienendes Bahngleises des „Veldener Bockerls“ von Eibach nach Dorfen zurück. Es war ein heißer Tag und die Mücken stachen uns die bloßen Wadl wund. Doch wie sah unser Haus aus! Die Fenster waren noch zum Teil mit Brettern verschlagen und das Dach war nur noch halb gedeckt. Die Schäden waren bald beseitigt. Da gab es Schlimmeres für mich: Immer noch saß mir der Feind im Nacken und die Angst vor der ersten Begegnung mit ihm. Der Feind war hiuer überall im Gegensatz zum Kloster Algasing. Ganz Dorfen war voll von ihm. Er saß in allen schönen Häusern, kaute unentwegt etwas, das wir nicht kannten, ähnlich unseren Kühen im Stall. Meine Freundin, die „ihm“ schon begegnet war, erzählte, dass man auch kein Wort von ihm verstand, wenn er nicht kaute. Manch einer war schwarz wie die Nacht und die Frauen, auch meine Mutter, machten einen großen Bogen um ihn. Dann geschah es: Ein Ball, ähnlich wie ein Fußball, flog über unser Scheunendach in den Hof und um die Ecke kam sein Besitzer, ein großer Feind und ging auf mich zu. Sicherheitshalber begann ich, ihn von unten zu betrachten. Er hatte enge geschnürte Stiefel an den Füßen, auf dem Kopf Haare so kurz wie eine Bürste. Es blitzten mich weiße Zähne an und ein Paar lustige Augen. Zwischen Schnürstiefel und Bürstenkopf streckte sich mir eine Hand entgegen mit einem länglichen grünweißen Päckchen. Er fragte lachend: “Tschuinggam?“ Es war der große Unbekannte: Es schmeckte süßlich und frisch und kaute sich lustig. Nur, man durfte es nicht schlucken, dafür konnte man es an Tisch und Bett kleben, wenn man es ausgelutscht hatte. Gar nicht mehr so schüchtern nahm ich das Päckchen und gab der schenkenden Hand fafür den Ball zurück. Etwas Schweres fiel von meiner Seele. Der Feind hat mich beschenkt und er hatte nicht einmal ein Gewehr mit sich. Er war überhaupt kein Feind mehr, er war mehr Freund geworden. Nur einen Fehler hatte der jetzt geliebte Feind und davon sprach man im ganzen Ort und es war unfassbar für alle: Er setzte sich gemütlich in seinen Stuhl und legte die Füße auf den Tisch, ja sogar auf den Schreibtisch. „Er hat kein Benehmen“ sagten die Erwachsenen. Uns Kindern gefiel das, wir waren sehr angetan von dieser Lockerheit und ahmten sie tüchtig nach. Manch einer ging bei uns ein und aus und beschenkte uns Kinder mit Bananen, Orangen, Keksen süß und sauer und dem in kleine Päckchen gepressten Nescafe für die Mutter. Wie köstlich schmeckte uns die Schokolade mit Nüssen und Honig, die sich in die Länge zog, wenn man hinein biss! Do diese Besuche galten nicht in erster Linie uns Kindern. Wir hatten nämlich ein sehr schönes Dienstmädchen, das schon als sogenannte „Arbeitsmaid“ aus dem Dorfener Arbeitsdienstlagen bei uns beschäftigt war und auch nach dessen Auflösung bei Kriegsende zu uns zurückkam. Einmal landete sogar ein kleines Flugzeug eines Ami neben unserem Haus, um ihr einen Besuch abzustatten. Später entführte er die schwarze Traudl nach Amerika. Sie hatte Glück. Anderen jungen Dorfnerinnen, die sich mit Amerikanern einließen, wurde nachts aufgelauert und ihnen die Haare kurz geschnitten, falls junge Burschen davon erfuhren. Es war ein grausames Schicksal. Uns allen ging es bald schon besser. Plötzlich war auch wieder Ware in den Schaufenstern der Geschäfte, wohl gehortet während des Krieges. Ich erinnere mich an bunte Ringelsöckchen und einfache Riemensandalen. Wie wunderbar das war! Nicht so gut ging es den Menschen in der Großstadt. Sie kamen scharenweise, wie schon währen des Krieges, zu uns aufs Land. Eingepfercht in die Züge, zwischen den Wagen standen sie auf den Puffern und saßen auf den Dächern. Es ging ums Überleben. Unser Bauernhof war ja der erste neben dem Bahnhof und es war ein tägliches Kommen und Gehen der „Hamsterer“. „Es geht mir keiner aus dem Haus, der nichts bekommt“ sagte mein Vater. Wenn zuviele an einem Tag kamen, gab es manchmal nur ein paar Eier, ein Pfund Mehl, einen Kopf Blaukraut, ein paar Scheiben Brot. Manche tauschten auch Mitgebrachtes für die sogenannten „Fressalien“. Heute noch habe ich Tischdecken, wertvolle Bierkrüge und einiges Geschirr aus diesen Tauschgeschäften. Auch mein erstes Klavier verdanke ich dieser Zeit und dem Geschick meiner Mutter, für 100.-RM ein paar Eier und etwas Butte mir den Herzenswunsch zu erfüllen.
Foto: Die kleine Betty mit ca. 4 Jahren
Der Krieg mit seinen Schecken war zu Ende und ich hatte, damals 8 Jahre alt, ein starkes Gefühl des Erlöstseins und der großen Hoffnung auf ein schönes, angstfreies Leben. Allmählich wuchsen die Kindertage hinein in die Zeit der Jugend. Trotz der frühen Erfahrung von Krieg und Angst denke ich gerne an meine Kindheit zurück, an eine Zeit in Glück und Geborgenheit.